Szenen einer Reise

Absichten und Interessen an einem Seestück von Simon de Vlieger 1924-1951

Logo Texte zum Kunsthandel 1933-1945 Caroline FlickEine chronologische Rekonstruktion der Stationen, die am Gemälde wie an seinen Wegen nachweisbare Papierspuren hinterließen, war der Ausgangspunkt der Betrachtung von „Absichten und Interessen“. Um diese Spuren für ein Seestück des holländischen Marinemalers Simon de Vlieger (1601-1653) klären zu können, bedurfte es weiteren Ausholens, die Anlässe und Gründe der Translokationen des Kunstobjekts seit 1924 zu durchschauen und die Handelnden zu finden.

Die Rundreise beginnt in Amsterdam, wo der Galerie Jacques Goudstikkers Hermann Göring die verbliebenen Gemälde raubte und einen Teil an den Spekulanten Alois Miedl verkaufte. Miedl handelte damit und beschickte zur Finanzierung Auktionen, wo in Berlin 1940 das Stadtmuseum Stettin dieses Seestück ersteigerte. Zu Kriegsende nach Westen evakuiert, kamen die Bestände unter Kuratel der US-Armee, die sie mehrfach verlagerte. Schließlich im Münchner Central Collecting Point, bestimmte man das Bild und schickte es zurück nach Amsterdam, wo es 1951 der Staat verkaufte, seitdem ohne Nachricht.

Spielball der Interessen

Das Kunstgut ist Objekt des Kunstmarkts, kunsthistorischer Aufzeichnungen, politisch angestifteten Raubzuges, vom Krieg angestachelter Spekulation, ideologisch aufgerührten Geschmackswandels, von der Kriegswirtschaft beförderter Investition, der Sicherung in provisorischen Lagern, in Depots alliierter Truppenabteilungen, der Bestimmungen von Kunstschützer:n, der Repatriierung und nationalen Rekuperation, des Verlusts der Erb:en des Eigentümers, einer Suchmeldung. Eine Chronologie der Ereignisse macht Antriebe pars pro toto sichtbar.

Eine Chronologie ließe sich aber auch noch ganz anders auffädeln. Die systematische Suche nach Objekten, die das Berliner Auktionshaus Hans W. Lange durchlaufen haben, hat Werkzeuge stets zuerst in dieser Hinsicht betrachtet. Referenz- oder Beispielobjekte müssen dazu dienen, „Glanz und Elend“, Potentiale und Probleme der Werkzeuge zu erkennen.

Das Stück „1307“ ist ein solches Referenzobjekt, seine Versteigerung 1940 die Kreuzung der Wege, die vorwärts wie rückwärts zu inspizieren waren. Seinen Kurztitel „1307“ bezieht das Marinebild Simon de Vliegers aus dem zentralen Nachweis, dem Bestandsbuch Jacques Goudstikkers, der ihm diese Nummer gab. Die Erhebungen, chronologisch betrachtet, sind ein Lehrstück für Quellenkritik.*

Suche als angewandte Mengenlehre

2008 in der Datenbank des Deutschen Historischen Museums der Objekte im Münchner Central Collecting Point (mue 41931) erhoben, fiel die minutiöse Rückseitenverzeichnung auf, doch fehlt die Karteikarte (Bundesarchiv B 323/714) mit dem vollständigen Ermittlungsnachweis; „1307“ enthalten, Belege unvollständig, kaum nützliche Abbildung.

Das „Blackbook“ Jacques Goudstikkers, der Galeriebestand zum Zeitpunkt der Flucht der Familie, stand zeitweise eigens online zur Verfügung. 2010 in der „Ardelia Hall Collection“ der National Archives Washington (Fold3) gefunden, war unter Vlieger eine „Marine“ verzeichnet; „1307“ enthalten, Angaben wenig genau.

Die erste Version der Datenbank der Objekte, die nach dem Krieg vor allem aus München den Niederlanden restituiert wurden, 2013 besehen, enthielt unter dem Titel „Herkomst Gezocht“ nur jene Stücke, die in den Staatsbesitz „Nederlandse Kunstbezit“ (NK) eingegangen waren; „1307“ fehlte (nicht vorhanden).

2016 sollte die neue Version der Datenbank der niederländischen Verluste an die deutschen Besatzer, nun vom „Bureau Herkomst Gezocht“, sämtliche noch offenen Anmeldungen für Kunstwerke enthalten; „1307“ fehlt (abverkaufte Objekte nicht angezeigt).

2017 konnte erstmals das Inventar von 1945 (B 323/74) unter die Lupe genommen werden, die Listen der Handelsobjekte, die die Nachfolgefirma „vorheen“ oder „v.h. J. Goudstikker N.V.“ umsetzte; „1307“ enthalten, wenige Daten, mangelhafte Angaben.

Der Fund der „List of Paintings Brought to Coburg from Stettin Museum“ (Fold3), die 1945 aus dem Stettiner Stadtmuseums nach Westen gebracht, in einem bayerischen Repository vorläufig verzeichnet wurden, zeigte 2019 erstmals die Käuferseite näher; „1307“ fehlt (irrtümlich).

Anfang 2020 konnten in den digitalisierten Beständen der „Treuhandverwaltung für Kulturgut“ (Bundesarchiv) die „Meldeformulare der Kgl. Niederländischen Regierung“ für die (angeblichen) „Erwerbungen“ (B 323/5) des Auktionshauses Hans W. Lange, Berlin ausgewertet werden; „1307“ enthalten, kaum neue Angaben.

Durch Unterstützung zweier Kollegen konnten während der Stilllegung der Recherchen jedoch Dokumente des Nederlandse Beheersinstituut (NBI) zur Nachfolgefirma Goudstikker-Miedl gesichtet werden; „1307“ enthalten, doch Bruchstück, nur Abrechnung.

Dokumente, die im Nachlass Jacques und Desirée Goudstikkers im Gemeente Amsterdam Stadsarchief online stehen, zeigten den Weg des Gemäldes, zuerst von Göring vereinnahmt, an Miedl zurückverkauft, zum Verkauf nach Berlin versandt, bei Lange versteigert; „1307“ mehrfach enthalten, keine Beschreibung.

Die Kartei der Nachfolgefirma, vom Nederlands Instituut voor Kunstgeschiedenis (RKD) unter „Archives“ aufbereitet und digital veröffentlicht, erfordert mangels Ordnung wie Fehlern kritische Sichtung; „1307“ fehlt (vermutlich nie verzeichnet).

Im Goudstikker Art Restitution Project wurden alle noch vermissten Objekte in der Datenbank Lost Art des Deutschen Zentrums Kulturgutverluste veröffentlicht, dieses Gemälde 2020 (ID 586506); „1307“ inklusive Abverkauf enthalten, doch mit anderer Abbildung.

Das Inventarbuch des Stadtmuseums Stettin stellte der Stettiner Kollege 2022 zur Einsicht bereit. Der Erwerb als „Seestück mit Fischerboot“ unter der Inventarnummer „B 1219“ beschrieb das Bild weniger als der Auktionskatalog von 1940; „1307“ enthalten, kaum detailliert.

Mit Transport nach Westen kam das Gemälde nach Bayern in den Geltungsbereich der US-Armee, in den „Ardelia Hall Collection“ (Fold3) durch die Depots und in den MCCP zu verfolgen; „1307“ fehlt der Kartei der Property Cards Art, doch enthalten in den Munich Photos.

2023 finden sich Kataloge der Ausstellungen der „Collectie Goudstikker“ teils auf deutschen (arthistoricum), teils auf niederländischen (delpher) Seiten von Fachsammlungen auch digital publiziert; „1307“ enthalten 1924 und 1926, 1936 falsch zugeordnet.

Die Karteikarten des Kunstexperten Cornelis Hofstede de Groot, vom Nederlands Instituut voor Kunstgeschiedenis (RKD) unter „Excerpts“ digitalisiert, lieferten schließlich eine detaillierte kunsthistorische Beschreibung des Gemäldes; „1307“ zweifach enthalten und beschrieben, eindeutig nicht das Bild der Ausstellung von 1936.

Spielball der Werkzeuge ?!

Diese Serie zeigt nicht nur die Vermehrung der Arbeitsmittel und die resultierende immense Beschleunigung. Mit Absicht sind hier Quellen und Aufbereitungen in einen Topf geworfen, um zu zeigen, dass erst das Abtasten und Austesten den Nutzen eines Arbeitsmittels erweisen kann. Erst die Digitalisierung von Quellen gestattet nämlich, ein reflektiertes Bild ihres Gehalts zu gewinnen. Das wäre vor Ort vor Papieren so kaum möglich.

Fördert also Digitalisierung unsere Kompetenzen, tendiert sie bei den Aufbereitungen durchaus auch zu Verdummung. Es lässt sich viel und aufwändig suchen, wenn das Gesuchte unter anderen Bezeichnungen oder gleich gar nicht enthalten ist – ohne sich dazu zu erklären.

Schlossen also Urheber:n von Quellen ein Objekt in das Verzeichnis unter anderen Angaben oder gar nicht – aufgrund mangelnder Sorgfalt, Zeit, Kenntnissen oder weiteren Motiven – ein? Oder schlossen Bestandverwahrer:n – aufgrund fehlender Kenntnisse und Sorgfalt oder gar mit sekundären Motiven – einen Nachweis anders oder gar nicht in ihre Aufbereitung ein?

Transparenz ist nicht nur der Forschung, sondern im Herstellen von Werkzeugen geboten: Was ist wann wo wie warum und wozu enthalten und wer hat es entschieden – oder eben nicht.

Szenen einer Reise. Absichten und Interessen an einem Seestück von Simon de Vlieger 1924-1951, in: Retour. Freier Blog für Provenienzforschende, 12.04.2023, Tag der Provenienzforschung 2023, Arbeitskreis für Provenienzforschung

* Mit Dank für all die Unterstützung an viele Kolleg:innen, die das Verstehen dieser Quellen befördert haben, besonders an Dr. Barbara Schröter, Dr. Christopher Galler, Jan Thomas Köhler, Dr. Dariusz Kacprzak, außerdem an Heike Stange, Dr. Sebastian Schlegel und Elisabeth Geldmacher für kritische Betrachtung der „Szenen“.

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